Kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges hörte der Knabe Heinz Holliger eine Oboe im Radio, und da wusste er, dass er genau dieses Instrument erlernen möchte. Er hatte aber noch nie eine Oboe gesehen; so reiste seine ältere Schwester mit ihm von seinem Geburtsort Langenthal nach Bern ins Stadttheater, um ihm eine zu zeigen. In der Theaterpause durfte er dann einen Blick in den Orchestergraben werfen und die schwarzen Röhren bestaunen, die die Musiker auf ihren Stühlen liegen gelassen hatten. Die Harfenistin, die gerade dabei war, ihr Instrument zu stimmen, erklärte ihm, dass bei diesen Oboen aber die Mundstücke fehlen würden. Heinz Holliger, der nicht wusste, was damit gemeint sei, träumte in der folgenden Nacht von Oboen mit Mundstücken, die aussahen wie Bunsenbrenner. Die Enttäuschung des Kindes angesichts des realen Oboen-Mundstücks muss groß gewesen sein!
Es ist ein Schlüsselerlebnis! Heinz Holliger wird später der größte Meister seines Instrumentes werden, ein Weltstar, der die gesamte Oboen-Literatur spielt und diese Literatur mit Aufträgen an nahezu alle namhaften Komponisten um hunderte von Werken erweitern wird. Was im 19. Jahrhundert Paganini für die Violine, Liszt oder Chopin fürs Klavier waren, das ist Holliger im 20. Jahrhundert für die Oboe. Und doch: Der Bunsenbrennertraum ging darob nicht verloren.
Denn der schöne Klang, den er als Virtuose perfektioniert hat, interessiert ihn als Komponist nicht. Viel lieber betätigt er sich als virtueller Instrumentenbauer, der die glanzvolle Oberfläche der Instrumente durchbricht und ihnen bisher versteckte Klänge entlockt, ja den eigentlichen Klang des Instrumentes umstülpt.
Mit solchen Klangverwandlungen spielt Heinz Holliger auch im Doppelkonzert für Violine und Bratsche, das er im Auftrag der Salzburger Festspiele komponiert. In den meisten Doppelkonzerten wird das Zusammengehen der beiden Instrumente gefeiert und eigentlich für ein einziges Superinstrument komponiert. Holliger will genau das Gegenteil. Sein Doppelkonzert ist gleichsam die Umkehrung von Mozarts Sinfonia concertante: Violine und Bratsche werden räumlich und klanglich auseinandergerissen. Die Solo-Instrumente werden mit je einem kleinen Ensemble umgeben, das sie verstärkt und zugleich in ein flimmerndes Klangnetz einbindet: Die Violine soll dadurch hoch, grell und scharf – die Bratsche dunkel, tief und weich werden. Ein kleines Orchester in der Mitte vermittelt zwischen diesen beiden Positionen. Vieles aus Mozarts Sinfonia concertante wird er in seine Komposition einarbeiten, aber Holliger weiß schon jetzt, dass kein Mensch diese Bezüge hören wird, weil er Mozarts Musik koboldhaft dort aufblitzen lässt, wo sie niemand erwartet, z.B. im Schlagzeug oder in gekeuchten Geräuschen der Bläser.
Holligers Werke sind durchsetzt von solchen geisterhaften Bezugsnetzen, in die seine Lebenserfahrungen, Träume, aber auch die von ihm dirigierte und gespielte Musik eingesponnen sind. Deshalb liebt er als Interpret auch jene Komponisten, die poröse Musik schreiben, Musik, die verletzlich und flüchtig bleibt. Zwei weitere Komponisten, deren Werke neben Holliger bei Salzburg contemporary aufgeführt werden, sind von dieser Art: der Pole Witold Lutosławski und der Deutsche Bernd Alois Zimmermann. Sie haben in ihrem Leben den Faschismus und den Kommunismus erlitten und sind in frühen Jahren nur knapp dem Tod entkommen. Sie haben eine sich befragende, die Unsicherheit eingestehende Musik geschrieben, in die aber auch das Aufbegehren, ja der Aufschrei eingeschrieben ist. Das wohl extremste Werk ist dabei Zimmermanns Oper Die Soldaten, und es ist schon ein Ereignis, dass eine der wichtigsten Opern nach Mozart nun erstmals in Salzburg in Szene gesetzt wird. In die Soldaten ist die ganze Musikgeschichte eingearbeitet, vom Mittelalter bis heute, von der komplexesten Kunstmusik über Volksmusik bis zum Jazz, ein polyphones Netz von Bezügen, Geschichten, Träumen, Katastrophen, genährt von eigener Lebenserfahrung, die bei Zimmermann so unerträglich wurde, dass er sich schließlich das Leben nahm. Was bei den Soldaten noch einigermaßen eingefasst ist im Betrieb der Oper, bricht bei der Ekklesiastischen Aktion offen aus: die Spannungen seiner Zeit, die Aufrüstung, der Bankrott aller Werte – und Zimmermanns eigene Hoffnungslosigkeit werden zu einem verzweifelt monumentalen Gestus gesteigert.
Wie ein ekklesiastisches Exercitium wirkt daneben Holligers Scardanelli-Zyklus. 1806 rettet sich Hölderlin, damals 36 Jahre alt, in den Tübinger Turm, wo er 37 Jahre lang abgeschieden von der Welt als sogenannter Geisteskranker lebt und nur ab und zu noch für ein wenig Pfeifentabak Gedichte schreibt, helle und fröhliche, die nichts von früheren Schmerzen verraten. Mit „Scardanelli“ hat er sie oft unterschrieben. 36 Jahre ist Heinz Holliger alt, als er sich 1975 mit diesen späten Hölderlin-Gedichten zu beschäftigen beginnt und während 15 Jahren zum immer umfangreicheren Scardanelli-Zyklus ausbaut. Auch der Scardanelli-Zyklus ist ein Netzwerk, in welches Hölderlins Leben, sein Schaffen, die Flötenmusik, die er spielte, eingearbeitet sind.
Heinz Holligers zweiter Kompositionsauftrag der Salzburger Festspiele ist ein Werk für die Bläser der Wiener Philharmoniker. Während einer schweren Erkrankung und aus der für den Oboisten bedrängenden Erfahrung heraus, Atemnot und wenig Luft zu haben, hat Holliger diese Musik konzipiert. Es werden Klänge zu hören sein, die den Bunsenbrennertraum des Knaben Heinz Holliger durchaus wieder aufleben lassen dürften.
Roman Brotbeck