Die Szene ist ein Schlachtfeld. Und die Protagonisten sind Krieger und Liebende zugleich. Vom Schicksal auserkoren, muss Penthesilea sich den Heeresführer Achilles erobern. Nur als Kriegsbeute kann die stolze Amazone ihn auch als Mann gewinnen. Doch der Rausch endet tödlich. Für beide. „Küsse, Bisse, das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt, kann schon das Eine für das Andre greifen“, mit diesen legendären Worten wird sich Penthesilea ihres mörderischen Versehens bewusst. Eine Tragödie. Ein Trauma. Ein Traum?
Als Heinrich von Kleist im Jahr 1808 sein Trauerspiel Penthesilea veröffentlichte, galt es den Zeitgenossen schnell als unspielbar. Goethe konnte sich damit „nicht befreunden“ und sah Kleist vergeblich „auf ein Theater warten, welches da kommen soll“. Andere Stimmen geißelten das Stück als Spektakel, als roh, wild, durchzogen von fieberhaften Zuckungen, entsetzlich, abscheulich, ekelhaft. Was war es, was diese ersten Leser so sehr abstieß, was für sie das Drama unaufführbar machte? War es bloß das Undarstellbare: wie Penthesilea den Achilles mit einer Hundemeute in Stücke reißt? Oder war es eher das Unvorstellbare: eben dass sie es tut?
Als das Drama beginnt, stehen sich vor den Toren Trojas die Heere der Griechen und Trojaner gegenüber. Die Amazonenkönigin Penthesilea greift mit ihrem Heer in die Schlacht ein, und schnell wird klar, dass sich hier aggressive und libidinöse Energien überlagern. Wie von ihrer Mutter vorausgesagt, hat sich Penthesilea auf dem Schlachtfeld in den Griechen Achilles verliebt. Ihre Liebe ist so unbezwingbar wie der Kriegsheld selbst, immer wieder zieht sie gegen ihn zu Felde, um ihn sich im Kampf zu unterwerfen und, wie es das Gesetz der Amazonen vorschreibt, ihn dann als Gatten in ihr Reich zu führen.
Doch Achilles ist es, der sie verwundet. Als sie aus ihrer Ohnmacht erwacht, glaubt sie, selbst die Siegerin zu sein. Und Achilles spielt mit. Es ist der erste Realitätsverlust. Nachdem die Amazonen ihre Königin wiederum befreien konnten, fordert Achilles Revanche und will ihr eigentlich zum Schein unterliegen. Doch dieses Liebeskriegsspiel wird für ihn blutiger Ernst: Penthesilea durchschaut sein Spiel nicht und steigert sich in Rage. Sie trifft ihn, tödlich. Und sie fällt über den Leichnam mit ihren Hunden her, zerreißt ihn, zerfleischt ihn. Als sie aus diesem Rausch erwacht, als sie erkennt und sieht, was wirklich war, wählt sie den Freitod.
Kleist stellt mit Penthesilea die Frage nach dem Darstellbaren, nach dem Sichtbaren beziehungsweise Unsichtbaren. Es ist auch die Frage nach dem Bewussten und Unbewussten. Wie sehr ist der Mensch Herr seiner Sinne? Und bleibt es eine Illusion, den Schauplatz des Kampfes verlassen zu können?
Die Neuinszenierung von Johan Simons wird den Kern des Dramas auf nur zwei Akteure fokussieren: Penthesilea und Achilles. Duell und Duett. Zwei Menschen zwischen Trugspiel und Wahn, zwischen Traum und Wahrheit, zwischen Krieg und ewigem Frieden, zwischen Exzess und Erkenntnis. Ein Schlachtfeld der Worte, der Gefühle und des Unsagbaren.
Johan Simons zählt zu den wichtigsten zeitgenössischen Theaterregisseuren und wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet. Als Intendant leitete er u.a. das NTGent, die Münchner Kammerspiele und die Ruhrtriennale. Ab 2018/19 übernimmt er die Leitung am Schauspielhaus Bochum. Als Penthesilea und Achilles sind Sandra Hüller und Jens Harzer zu erleben, die bereits zusammen in dem Kinodrama Requiem (2005) spielten und mit Johan Simons durch intensive Arbeitsbeziehungen verbunden sind. Mit Penthesilea setzen Hüller und Simons, elf Jahre nach Prinz Friedrich von Homburg in München, ihre gemeinsame Beschäftigung mit Heinrich von Kleist fort. Johan Simons: „Mir als Niederländer fällt auf, dass Kleist vier Sätze benötigt, wo ein Schriftsteller heute tausend Sätze brauchen würde. Das soll kein Urteil über Qualität sein, aber es sagt viel aus über die Geschwindigkeit der Zeit, in der wir leben.“
Vasco Boenisch