Sehr wahrscheinlich handelt es sich bei Der Sturm um Shakespeares letztes Stück – zumindest das letzte, für das er alleinige Verantwortung als Autor trägt. Wir wissen sehr wenig über Shakespeares Leben, aber Faktum ist, dass Der Sturm in den Jahren 1610/11 entstand und zu Allerheiligen, am 1. November 1611, am Hof uraufgeführt wurde. Wir wissen auch, dass Shakespeare, nachdem er den Großteil seines Lebens in London verbracht hatte, für die letzten drei Lebensjahre zu seiner Familie nach Stratford-upon-Avon zurückkehrte. Dort starb er 1616, kurz vor seinem 52. Geburtstag; sein Grab befindet sich in der Pfarrkirche am Ufer des Flusses Avon. Immer wieder wurden Spekulationen darüber angestellt, dass es sich bei Prospero, dem Zauberer, der im Zentrum des Stückes steht, um eine Art Selbstporträt Shakespeares handelt, der sich in Gedanken seinem eigenen Tod zuwendet und dem unabwendbaren Schwinden seiner kreativen Macht.
Die Geschichte spielt auf einer entlegenen Insel, auf der Prospero, Herzog von Mailand, im Exil lebt und Pläne schmiedet, seiner Tochter Miranda ihren rechtmäßigen Platz zurückzugewinnen. Mithilfe seiner magischen Kräfte beschwört er jenen Sturm herauf, der dem Stück den Namen gibt, um seinen Bruder Antonio, den Usurpator, und König Alonso von Neapel, der mit ihm unter einer Decke steckt, auf der Insel festzuhalten. Hier gelingt es ihm, mit Hilfe seiner Macht über natürliche und übernatürliche Kräfte, Antonios dämonisches Wesen zu enthüllen, die Erlösung des Königs zu bewirken und seine Tochter Miranda mit Alonsos Sohn Ferdinand zu vermählen. Dazu kommt eine wundervolle Nebenhandlung, an der Prosperos „missgestalteter“ Sklave Caliban – rechtmäßiger Erbe der Insel – und zwei Mitglieder der Schiffsmannschaft beteiligt sind: der Hofnarr Trinculo und der Koch und Leibdiener Stephano.
Der Sturm, Werk einer zutiefst phantasievollen Schöpferkraft, unterhält uns mit Geistern in wechselnder Gestalt, mit magischen Verwandlungen, Maskenspielen und Liebhabern, mit Komödiantik und Musik. Hier befindet Shakespeare sich auf dem höchsten Gipfel seiner kreativen Kraft. Hier finden wir seine berühmten Worte über das Theater; hier wird der menschliche Geist seziert, um das ihm innewohnende Gold zu offenbaren: Mitleid und Vergebung. Veränderungen, Verwandlungen, Verwechslungen – hier vermischen sich extreme Gegensätze, kollidieren miteinander, zugleich komisch, schrecklich und voll Schönheit, und verdichten sich zum Schauspiel. Seine Darstellung der fließenden Grenzen zwischen Leben und Kunst, Traum und Drama, Präsenz und Abwesenheit diente unzähligen Künstlern aller Zeiten als Inspiration …
„Wir sind aus solchem Stoff wie Träume sind,
Und unser kleines Leben
Liegt im Schlaf …“
(Prospero, Der Sturm, 4. Akt, 1. Szene)
In den Versen des Sturm erleben wir eine Art Liebesbrief Shakespeares an seine Kunst; das Stück selbst ist eine Hommage an die Liebe seines Lebens – das Theater. Die Bilderwelt der damaligen Zeit lebt in dem Stück, Seite an Seite mit der Bilderwelt von heute; und in seinem Zentrum steht die zeitlose Konfrontation mit Sterblichkeit, tragischem Verlust, Erlösung und der Rückkehr ins Leben. Sich mit diesem Stück am Ende eines Jahres zu befassen, das von den Bildern der schrecklichen, gefahrvollen und lebensverändernden Seereisen all jener dominiert wurde, die ohne Hab und Gut schiffbrüchig an unbekannten Inseln strandeten, ist eine außergewöhnliche Erfahrung. Wieder einmal werden wir daran erinnert, was Ben Jonson über seinen Freund und Rivalen William Shakespeare einst sagte: „Er gehörte nicht einem Zeitalter allein, sondern allen Zeiten!“
Als Sven-Eric Bechtolf mich einlud, nach Salzburg zurückzukehren und ein Shakespeare-Stück zu inszenieren, war ich begeistert zu sehen, dass Der Sturm ganz oben auf seiner Liste stand. Nach Salzburg zu kommen, um Shakespeares größtes Werk neu zu inszenieren – was gäbe es wohl für eine bessere Möglichkeit, seinen 400. Todestag zu begehen?
Deborah Warner
(Übersetzung: Vera Neuroth)