Wolfgang Rihm Die Eroberung von Mexico
Musik-Theater nach Antonin Artaud (1896–1948) von Wolfgang Rihm (*1952)
Libretto von Wolfgang Rihm
Neuinszenierung
Mit deutschen und englischen Übertiteln
Dauer der Oper ca. 2 Stunden und 20 Minuten.
PREMIERE
- 29. Juli 2015, 19:30 Uhr
- 01. August 2015, 19:30 Uhr
- 04. August 2015, 20:00 Uhr
- 10. August 2015, 19:00 Uhr
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Die Eroberung von Mexico: Wer beim Titel von Wolfgang Rihms 1991 vollendetem „Musik-Theater“ Historiendramen assoziiert, geht fehl. Die Unterwerfung des Aztekenreichs durch die Spanier bildet weniger das Sujet des Werks als den Anlass, ein Thema durchzuspielen, das zu allen Zeiten, an allen Orten Faszination und Angst, Chance und Bedrohung in sich barg: die Begegnung mit dem Fremden – und die Mechanismen von dessen Zerstörung. Freilich prägt die Öffnung von Geschichte hin zu Imaginationsräumen, in denen menschlichen Grundkonstellationen nachgespürt wird, bereits Rihms Hauptquelle, Antonin Artauds La Conquête du Mexique aus dem Jahr 1932. Artauds Vision eines anarchischen, multisensualen Theaters, das sich von sämtlichen darstellerischen Konventionen, insbesondere dem Vertrauen in Wort und Sprache, befreit, um den Zuschauer mit der Kraft eines Rituals zu bannen, hatte Rihm 1980 bereits zu seinem „poème dansé“ Tutuguri inspiriert und ließ ihn auch danach nicht los. In La Conquête du Mexique beschreibt Artaud ein seinen Vorstellungen entsprechendes Drama in seinem szenischen Ablauf – sprachgewaltig, poetisch und zuweilen surreal. Rihm entnahm dem (auf Dialoge verzichtenden) Entwurf die Gliederung seines „Musik-Theaters“ in vier Teile; die Hand in Hand mit der musikalischen Komposition entstandene Textmontage, in die auch Material aus Artauds Le Théâtre de Séraphin, ein Gedicht von Octavio Paz und aztekische Gesänge eingingen, vergegenwärtigt das Geschehen in Form eines assoziativen Ineinanders von Zuständen, Aktionen, Gefühlen und Reflexionen.
Im Zentrum steht die Begegnung zwischen dem Aztekenherrscher Montezuma und dem Konquistador Cortez, Vertretern gegensätzlicher kultureller Welten. Gleich zu Beginn erfahren die expansiven Melodielinien, in die Montezuma seine Beschwörung der Natur kleidet, eine Pervertierung in Cortez’ aggressivem, kurzatmigem Echo dieser Worte. Als die beiden sich dann erstmals gegenüberstehen, scheint ein Verstehen unmöglich, und der Azteke wird sich rasch über die wirklichen Absichten der Spanier klar: „Ihr seht nur Gold.“ Dass Rihm Montezuma als Sopranrolle konzipiert, die klanglich durch zwei weitere Frauenstimmen im Orchester erweitert wird, während Cortez zwei männliche Sprecher zuordenbar sind, sollte jedoch nicht vorschnell zu Polarisierungen und platten Identifizierungen etwa im Sinne eines Geschlechterkonflikts verleiten. Nicht Schwarzweißmalerei interessiert Rihm, sondern Ambivalenz. Aufschlussreicherweise hat er die Begegnung zwischen Montezuma und Cortez einmal eine „Selbstbegegnung“ genannt und auf Verwandtschaften in deren jeweiligen politischen Systemen angespielt. Gleichwohl löst der Clash of Cul-tures, die Konfrontation mit der fremden Lebenswelt in Montezuma und Cortez eine innere Erschütterung aus, eine tiefgreifende Verunsicherung des Selbst und der mit ihm verknüpften Ordnungen. Selbst vermeintlich feste Kategorien wie die Formel „neutral–weiblich – männlich“ aus Artauds Séraphin-Text, die Die Eroberung von Mexico leitmotivisch durchzieht, können keinen Halt mehr bieten.
Auf der kollektiven Ebene zeitigt der Konflikt mit dem Fremden seine schlimmstmögliche Konsequenz: die gegenseitige Abschlachtung von Spaniern und Azteken in der „Noche triste“. Wird mit dem Fremden nicht immer auch ein Teil des Eigenen vernichtet? Eine Frage, die sich umso beharrlicher aufdrängt, als Montezuma nach seinem Tod stimmlich weiter präsent bleibt und Cortez am Schluss des Werks zu seinem einzigen – unbegleiteten – Zwiegesang mit ihm findet, einer enigmatischen Vereinigung (mit sich selbst?).
Was Rihm an Artauds dramatischem Entwurf anzog, war nicht zuletzt „die Entgrenzung von theatralischen Handlungselementen in musikalische Vorgänge hinein“. Es überrascht daher nicht, dass die Musik in Die Eroberung von Mexico eine große Eigengesetzlichkeit entfaltet und die „Handlung“ ganz essenziell formt, keineswegs bloß illustriert. Dabei wird Artauds Ideal von theatralischen Mitteln, die das Publikum „in direkter Rede“, jenseits vertrauter Formeln oder Stile affizieren, eindrucksvoll eingelöst: begreift Rihm den Klang doch als Körper, als „handelnde ‚Person‘“, die den Zuhörer mit geradezu physischer Intensität berührt. Dieser Höreindruck verstärkt sich in Die Eroberung von Mexico noch durch die Auffächerung des Orchesters vom Graben in den Raum hinein; hinzu kommen die aus mehreren Lautsprechern dringenden Tonbandeinspielungen mit Chorklängen: Das Publikum befindet sich gleichsam innerhalb des Klangs.
Christian Arseni