„Meine arme Cenerentola, eine unerwartete Tochter und die Arbeit weniger Tage …“ Das Vorwort, das Jacopo Ferretti dem Libretto zu Rossinis Oper im Erstdruck voranstellte, diente einerseits dazu, die „Mittelmäßigkeit“ der Verse mit deren widrigen Entstehungsumständen zu entschuldigen: Zensur- und Terminschwierigkeiten waren schuld daran, dass Ferretti sein Libretto in 22 Tagen schreiben und Rossini es, mehr oder weniger parallel, in 24 Tagen vertonen musste – am 25. Januar 1817 wurde La Cenerentola am römischen Teatro Valle uraufgeführt. Andererseits begegnet der Librettist möglichen Erwartungshaltungen angesichts einer Oper, die auf einem der ältesten und bekanntesten Märchenstoffe basiert. So weist Ferretti darauf hin, dass der Schuh, den Aschenputtel in Charles Perraults berühmter Version des Märchens verliert, in der Oper gar nicht vorkomme; die Titelfigur entbehre auch „der Gesellschaft eines Zauberers, der Phantasmagorien erzeugt, oder einer sprechenden Katze“. Damit thematisiert er jenes auffallende Fehlen übernatürlicher Elemente, das gern auf den skeptisch-rationalen Rossini zurückgeführt wurde. Tatsächlich sind Zaubereien oder vermenschlichte Tiere jedoch bereits in Nicolas Isouards Oper Cendrillon (1810) weitgehend getilgt, deren Libretto Ferretti zweifellos als Vorbild diente. Auch dort finden wir übrigens anstelle der guten Fee die Gestalt des weisen Alidoro, der als Erzieher des Prinzen diesem zu seinem Glück verhilft.
Alidoro glaubt – ob aus christlicher oder aufklärerischer Zuversicht, sei dahingestellt – an eine höhere Gerechtigkeit. Nicht zuletzt ihm ist es zu verdanken, dass die Geschichte trotz der Abwesenheit des Übernatürlichen ihr utopisches und dadurch wiederum märchenhaftes Moment behält. Die moralische Vision, mit der diese Utopie verknüpft ist, kommt im Untertitel des Werks zum Ausdruck: „La bontà in trionfo“. In Rossinis Oper siegt das Gutsein. Wenn das Stück damit unsere Sehnsucht nach einer besseren Welt bedient, so führt es uns doch zugleich den Status quo in komischer Überzeichnung schonungslos deutlich vor Augen.
Ganz realistisch ist bereits die Ausgangssituation umrissen: „Die eine Hälfte meines Palastes ist schon eingestürzt, die andere im Todeskampf“, jammert Don Magnifico seinen Töchtern Clorinda und Tisbe vor, die seiner prekären Finanzlage ein Ende machen könnten: durch die Ehe mit dem eine Braut suchenden Prinzen. Don Magnificos Stieftochter Cenerentola, die eigentlich Angelina heißt, muss hingegen das Dasein einer Dienerin fristen. Sie nimmt ihr Schick-
sal geduldig hin und tröstet sich mit einem Lied (ihre garstigen Stiefschwestern können es schon nicht mehr hören), das von ihrem Helden erzählt, einem König, der von drei Frauen umworben wird: „Was tut er? Er verachtet den Prunk und die Schönheit, und erwählt für sich schließlich die Unschuld und Güte.“
Nicht von einem Dasein als Prinzessin träumt Angelina, sondern von wahrer, am Menschen an sich interessierter Liebe. Ein bisschen wie wir alle, die wir die ausschließliche Orientierung an „inneren Werten“ aber dann doch belächeln. Optische Attraktivität ist nun einmal verlockend, ersatzweise auch finanzieller Überfluss, gesellschaftlicher Rang, Macht … Nach letzteren Dingen steht jedenfalls Cenerentolas Stiefschwestern der Sinn, und der pompöse Don Magnifico imaginiert sich schon ganz konkret in einer einflussreichen Position am Hof: Die Bittsteller stehen Schlange, das Schmiergeld fließt nur so.
Der soziale Ehrgeiz verzerrt den Blick auf die Wirklichkeit: Da der Prinz, Don Ramiro, und sein Diener Dandini die Rollen getauscht haben, um Charakter und Herz der Ehebewerberinnen zu erforschen, kann sich der falsche Prinz Clorinda und Tisbe kaum vom Leibe halten, während dem echten prompt eine „plebejische Seele“ und „gewöhnliche Ausstrahlung“ attestiert werden. Das Verkleidungsspiel entlarvt die Scheinhaftigkeit und Absurdität des ganzen Treibens – Rossini setzt es musikalisch mit dem ihm eigenen Witz und Brillanz in Szene. Wie in seinen früheren Buffa-Opern begegnen wir auch in La Cenerentola jenen Momenten allgemeiner Perplexität, die Rossini so umwerfend einfängt: Mit hörbarem Vergnügen kombiniert er die einzelnen, vor Staunen erstarrten Figuren wie Marionetten zu formal perfekt organisierten Ensembles, die sich geradezu manisch zu kollektivem Taumel steigern können.
Selbst in der Masse behält Cenerentola immer ihre ganz eigene Stimme. Von ihrem melancholisch gefärbten Lieblingslied an, dessen Worte sich als prophetisch erweisen, ist sie durch einen empfindsamen Tonfall charakterisiert. Nur Don Ramiro vermag in ihn einzustimmen: Als Cenerentola den vermeintlichen Diener gleich bei der ersten Begegnung als Seelenverwandten erkennt, verbinden sich die beiden Stimmen zu einem innigen Duett. Die vokale Virtuosität, die die feinen Fiorituren dieses Duetts erfordern, stellt Rossini später in den Dienst des heroischen Gestus, mit dem Cenerentola im Schloss auftritt. So verknüpft der 25-jährige Komponist die Komik der Opera buffa mit rührender Empfindsamkeit und gelegentlich sogar Ausdrucksdimensionen, die wir sonst nur in seinen Opere serie antreffen. Genau diese Vielfalt der Stilebenen macht La Cenerentola zu einer der reizvollsten und auch menschlichsten Opern Rossinis.
Christian Arseni