Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es immer noch die Oper, die einem Komponisten die breiteste öffentliche Aufmerksamkeit und den schnellsten Erfolg sichern konnte. Auch Franz Schubert zeigte schon in jugendlichem Alter, ermuntert durch seinen Lehrer Salieri, Theaterambitionen: Es war der Beginn eines langen, recht glücklosen Kapitels seiner Laufbahn. Von den elf Bühnenwerken, die Schubert vollendete (größtenteils Singspiele), erlebte er nur drei auf der Bühne. Das lag auch daran, dass er die meisten dieser Werke ohne offiziellen Auftrag schuf, „weil es ihn drängte, sie zu schreiben, und weil Beifall und Geld ihm nie als Reizmittel dienten, um der Kunst zu leben“ (Josef von Spaun). Im Fall des 1823 komponierten Fierrabras, seinem bedeutendsten Bühnenwerk, bestand allerdings guter Grund zur Hoffnung: Das Libretto stammte von Josef Kupelwieser, dem einflussreichen und die deutsche Oper fördernden Sekretär des k.k. Kärntnertortheaters, wo Fierrabras Anfang 1824 herauskommen sollte; auch das der Nachfrage nach Ritterromantik entgegenkommende Sujet war vielversprechend. Wer konnte ahnen, dass eine andere „heroisch-romantische“ Oper, Webers Euryanthe, im Herbst 1823 am Kärtnertortheater einen Misserfolg landen und den Direktor veranlassen würde, auch Fierrabras vom Spielplan zu nehmen? Die Wiener stürmten lieber weiter Rossini-Opern, und Schuberts Partitur verschwand in der Schublade. Erst 1897 wurde Fierrabras erstmals szenisch aufgeführt.
Die Oper verknüpft zwei Geschichten aus dem Sagenkreis um Karl den Großen vor dem Hintergrund der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Christen und Muslimen. Ein Handlungsstrang hat seine Wurzel in der altfranzösischen „chanson de geste“ Fierabras, deren Titelheld, ein riesenhafter Maurenprinz, in fränkische Gefangenschaft gerät und zum Christentum übertritt; seine Schwester hingegen verliebt sich in einen von den Mauren gefangen gehaltenen fränkischen Ritter und verhilft ihm und seinen Kameraden zur Flucht. Eine Fassung dieses Epos und Calderóns dramatische Bearbeitung des Stoffes, Die Brücke von Mantible, wurden Anfang des 19. Jahrhunderts in deutschen Übersetzungen neu zugänglich gemacht. Diese Quellen ergänzte Kupelwieser mit der Legende von Eginhard und Emma, sodass wir es in Schuberts Fierrabras mit zwei Liebespaaren zu tun haben. König Karls Tochter Emma und der arme Ritter Eginhard halten ihre Liebe geheim, da sie fürchten, der König würde die nicht standesgemäße Verbindung missbilligen. Politische Schranken hingegen trennen die maurische Prinzessin Florinda und den Frankenritter Roland, deren Liebe einst zu Friedenszeiten in Rom aufkeimte. Als Führer einer fränkischen Gesandtschaft gelangt Roland nun an den Hof von Boland, wo er seiner Geliebten wiederbegegnet. Als der Maurenfürst die Gesandten einkerkern lässt, ist Florinda bereit, Vater, Heimat, Ehre und Glaube zu vergessen, um Roland zu retten: „Nicht Vaterland, selbst nicht des Blutes Bande, erschrecken mich; für ihn trotz’ ich dem Tod, ja selbst der Schande!“ In ihrer rebellischen Leidenschaft ähnelt Florinda Leonore in Beethovens Fidelio; sie ist der Gegentypus zu Emma, die der väterlichen Autorität höriger und überhaupt stärker einem passiven, biedermeierlichen Frauenbild verhaftet ist.
Und Fierrabras? Im Gegensatz zu den Quellen führt die Oper ihn uns gleich zu Beginn als Gefangenen vor Augen. Zur militärischen Niederlage kommt die erotische, als er die angebetete Emma in den Armen Eginhards entdecken muss. Doch Fierrabras übt sich in Verzicht, um nicht zu sagen Selbstverleugnung: Er deckt den Nebenbuhler vor dem König und wandert statt seiner in den Kerker – alles um der Freundschaft willen, die er Eginhard entgegenbringt. Diese Opferbereitschaft mag heute befremdlich wirken. Am Ende bittet Fierrabras um den „Lohn“, unter die fränkischen Ritter aufgenommen zu werden. Sein Wunsch wird verständlicher, wenn man sich erinnert, wie ergreifend Schubert das Band freundschaftlicher Solidarität in einem A-cappella-Chor der vom Tod bedrohten Ritter im zweiten Akt in Töne gefasst hat.
Die jungen Protagonisten des Stücks sind, über ethnische, religiöse oder politische Gegensätze hinweg, also durch Liebe oder Freundschaft miteinander verbunden, durch wechselseitige Verantwortung und die Bereitschaft, das „Fremde“ jenseits kollektiver Identitäten zu verstehen. Sie geraten damit unvermeidlich in Widerstreit mit den Vätern, die auf Sicherung ihrer Macht aus sind und Toleranz im Grunde als eine Gefahr betrachten. Selbst König Karl, der als großmütiger Friedensbringer auftritt, verknüpft diesen Frieden doch klar mit der Forderung an die Mauren, „des Glaubens Wahrheit mit uns zu teilen“.
Konflikte mit der Vätergeneration und verkrusteten Machtstrukturen, äußeren Schranken trotzende Liebe, der Freundeskreis als wahre Heimat – all das waren Themen, die Schubert im Innersten berührten. An den Ängsten und Sehnsüchten, Hoffnungen und Verzweiflungen der Figuren konnte sich seine musikalische Inspiration unmittelbar entzünden. Immer wieder verdichtet sich die Musik in Fierrabras zu Tableaux, die uns ungemein suggestiv, wie unter einer Lupe das Innenleben der Figuren oder die emotionale Atmosphäre einer Situation vergegenwärtigen – von lyrischer Innigkeit und Ruhe bis hin zu äußerster dramatischer Erregung.
Christian Arseni