Aus der quälenden Atmosphäre des mykenischen Königspalastes sehnte Richard Strauss sich nach Lichterem. Noch während er an Elektra arbeitete, diskutierte er mit Hugo von Hofmannsthal schon das nächste Projekt: Mit einer „Spieloper“, einer aus mozartschem Geist geborenen Komödie, wollten die beiden neue Wege gehen. War Elektra als nachträgliche Bearbeitung von Hofmannsthals Schauspiel entstanden, so empfing der Dichter nun seine Weihen als Librettist im eigentlichen Sinn: Der Rosenkavalier bildete die erste Errungenschaft einer denkwürdigen Zusammenarbeit, die 20 Jahre währen sollte.
In Gesprächen mit Harry Graf Kessler entwarf Hofmannsthal im Februar 1909 ein detailliertes Szenarium der Oper. Die Ausarbeitung des Librettos zog sich noch über ein Jahr hin, da Hofmannsthal den Text aber ratenweise lieferte, konnte der ungeduldige Strauss bald mit der Komposition beginnen. Am 26. Januar 1911 erlebte der Rosenkavalier in Dresden seine umjubelte Uraufführung. Die Handlung schöpfte aus den verschiedensten Quellen, seien es Komödien Molières, ein „roman libertin“ des späten 18. Jahrhunderts, Gemälde von Hogarth oder Suppés Operette Fatinitza. Ort und Zeit waren beschlossene Sache: Wien unter Maria Theresia. Hofmannsthal schilderte im Rückblick, dass aus alten Komödien vertraute Typen den Ausgangspunkt für die Handlung bildeten. So begegnen wir dem rustikal-provinziellen, ebenso dünkelhaften wie groben Landadligen, dem reichen Emporkömmling, dem jungen Liebespaar, den Intriganten etc. Diese Figuren aber galt es – und das machte für Hofmannsthal das Wesen der Komödie aus – zueinander vielfältig in Beziehung zu setzen. „So stehen Gruppen gegen Gruppen“, notierte er im „Ungeschriebenen Nachwort zum Rosenkavalier“, „die Verbundenen sind getrennt, die Getrennten verbunden. Sie gehören alle zueinander, und was das Beste ist, liegt zwischen ihnen: es ist augenblicklich und ewig, und hier ist Raum für die Musik.“
Freilich offenbart, unter der Oberfläche leicht dahinfließender Konversation, schon Hofmannsthals Text diese inneren Beziehungen, und das mit einer für das literarische Fin-de-siècle typischen Sensibilität und psychologischen Durchdringung. Die simple Grundhandlung – „ein dicker, älterer, anmaßender Freier, vom Vater [der Braut] begünstigt, wird von einem hübschen, jungen ausgestochen“ (so in einem Brief an Strauss vom 12. Mai 1909) – verband Hofmannsthal einerseits mit burlesken Elementen wie der Fopperei des faunisch-lüsternen Baron Ochs auf Lerchenau durch Octavian als „Mariandl“, andererseits mit existenziellen Themen, um die seine Gedanken immer wieder kreisten, etwa die Vergänglichkeit. Die nicht mehr junge Feldmarschallin, von den Autoren von vornherein für die „höhere Region des Rührenden“ ausersehen, sinniert am Ende des ersten Akts melancholisch über die Zeitlichkeit alles Bestehenden. Nur zu gut weiß sie, dass ihr 17-jähriger Liebhaber Octavian sie früher oder später verlassen wird „um einer andern willen, die jünger und schöner ist“. Dieser Octavian, Graf Rofrano, ist ein Wiedergänger von Mozarts Cherubino im Figaro: War jener Feuer und Flamme für die Gräfin, so treffen wir Octavian nun im Bett der Marschallin an, die seine Mutter sein könnte. Dann aber begegnet er der blutjungen Sophie von Faninal, die von ihrem neugeadelten Vater eigentlich dem altadligen Baron Ochs versprochen wurde. Strauss hat diese Begegnung – Liebe auf den ersten Blick – in traumhaft-unwirkliche Klänge gebannt, auch der Titel der Oper bezieht sich darauf: Denn als Brautwerber für Ochs überreicht Octavian Sophie zeremoniell eine silberne Rose. Er selbst durchläuft währenddessen eine Initiation oder – um diesen für Hofmannsthal so zentralen Begriff zu verwenden – eine „Verwandlung“: vom „Bub“ (wie die Marschallin ihn gern nennt) zum erwachsenen Mann.
Über diese Verflechtungen hinaus sind die Figuren in einem konkreten Lebensumfeld verankert. Hofmannsthal sprach rückblickend vom „geheime[n] Wunsch, ein halb imaginäres, halb reales Ganzes entstehen zu lassen, dies Wien von 1740, eine ganze Stadt mit ihren Ständen, […] mit ihrem Zeremoniell, ihrer sozialen Stufung, ihrer Sprechweise oder vielmehr ihren nach den Ständen verschiedenen Sprechweisen“. Die Zeit, deren Erfahrung die Marschallin so beschäftigt, wird im Rosenkavalier also auf einer weiteren Ebene thematisiert: als historische Zeit. Dabei ging es keineswegs um authentische Rekonstruktion der Vergangenheit. Die subtil differenzierten „Sprechweisen“ der Figuren erweisen sich jedoch gerade in ihrer Artifizialität als echt, und das gilt auch für andere Elemente des Stücks: Sie vermitteln eine lebendige Idee von Epoche und Ort.
Strauss’ Musik trägt diesen Eindruck kongenial mit. Der Walzer, der große Teile der Partitur durchwebt, ist im maria-theresianischen Wien natürlich fehl am Platz, aber auch dort, wo Strauss das 18. Jahrhundert „zitiert“, lag ihm historistische Stilkopie fern. Indem er die Anspielungen in seinen eigenen, modernen Stil integrierte, verschmolz er Geschichtliches mit Gegenwärtigem und nahm so die Brechungen auf, die auch das Libretto prägen: eine imaginative Beschwörung vergangener (und vergehender) Zeit, in der – ähnlich wie im berühmten Monolog der Marschallin – auch Nostalgie mitschwingt.
Christian Arseni