Suzanne Andrade, Regie und Stücktext
Paul Barritt, Film, Animation und Design
Lillian Henley, Musik
Laurence Owen, Sound Design
Sarah Munro, Kostüme
Ben Francombe, Dramaturgie
Esme Appleton, Regie- und Designmitarbeit
Derek Andrade, Animationmitarbeit
Jo Crowley, Produktionsleitung
In dem berühmten Vertreter der fantastischen Literatur Gustav Meyrink hat das Ensemble 1927 einen verwandten Geist gefunden. Meyrinks Golem, der 1913–14 in einer Illustrierten als Roman in Fortsetzungen erschien und 1915 in Buchform veröffentlicht wurde, war ein Bestseller, lange bevor es diesen Begriff überhaupt gab. Auf den ersten Blick erscheint er als ein etwas untypisches Beispiel für Kriegsliteratur. Es handelt sich um einen fantastischen Roman, der zwischen mehreren Genres wechselt – allerdings ohne Soldaten und Gewehre. Sieht man jedoch genauer hin, erweist er sich sehr wohl als ein Produkt seiner Zeit. Er präsentiert eine Realität, die sich, verstörend instabil, auf stets wechselnde Fundamente gründet und in der unablässig neue Schrecken das Licht der Welt erblicken. Das Leben ist ein Zustand, in dem nichts mehr als gegeben vorausgesetzt werden kann, und wo sich gerade das älteste und traditionellste Wissen von seiner radikalsten und verstörendsten Seite zeigt.
„Ich dachte nur darüber nach, als vorhin die Mäntel so flogen, wie seltsam es ist, wenn der Wind leblose Dinge bewegt … es sieht gar so wunderlich aus, wenn Gegenstände plötzlich zu flattern anheben, die sonst immer tot daliegen. Nicht? – Ich sah einmal auf einem menschenleeren Platz zu, wie große Papierfetzen, – ohne dass ich vom Winde etwas spürte, denn ich stand durch ein Haus gedeckt, – in toller Wut im Kreise herumjagten und einander verfolgten, als hätten sie sich den Tod geschworen. – Einen Augenblick später schienen sie sich beruhigt zu haben, aber plötzlich kam wieder eine wahnwitzige Erbitterung über sie und in sinnlosem Grimm rasten sie umher, – drängten sich in einem Winkel zusammen, um von neuem besessen auseinander zu stieben und schließlich hinter einer Ecke zu verschwinden. Nur eine dicke Zeitung konnte nicht mitkommen, sie blieb auf dem Pflaster liegen und klappte hasserfüllt auf und zu, als sei ihr der Atem ausgegangen und als schnappte sie nach Luft.
Ein dunkler Verdacht stieg damals in mir auf: was – wenn am Ende wir Lebewesen auch so etwas Ähnliches wären wie solche Papierfetzen? – Ob nicht vielleicht ein unsichtbarer unbegreiflicher ‚Wind‘ auch uns hin und her treibt und unsre Handlungen bestimmt, während wir in unserer Einfalt glauben unter eigenem freien Willen zu stehen?
Was, wenn das Leben in uns nichts anderes wäre als ein rätselhafter Wirbelwind?!“
Der Golem ist eine legendäre Figur der jüdischen Folklore – eine menschliche Gestalt, aus Lehm geformt. Er erwacht zum Leben, sobald man ihm einen Zettel mit einem mystischen Text in den Mund legt. Ursprünglich zu dem Zweck erschaffen, seinen menschlichen Schöpfern unliebsame Arbeiten abzunehmen, erfüllt er seine Pflichten treulich, bis er eines Tages plötzlich einen eigenen Willen zeigt. Dieses sich emanzipierende Gebilde versetzt die Menschen in Angst und Schrecken.
Meyrinks Leserschaft begegnete seiner Version dieser Geschichte vor dem Hintergrund eines Konflikts, der durch die Erfindung von Maschinengewehren, Panzern und Flugzeugen immer mechanisiertere Züge annahm und dessen eigentliche Sieger jene Firmen waren, die von der Herstellung der Maschinen und Kriegsausrüstung profitierten.
Das Ensemble 1927 verlegt seinen Golem in eine Welt, in der dieser Prozess bereits wesentlich weiter fortgeschritten ist – eine Welt, in der Technologie und Marktwirtschaft soweit gediehen sind, dass sie drauf und dran sind, die Grenzen menschlicher Kontrolle zu überwinden.
In dieser Situation wird der Golem zu einer deutlich komplexeren Kreatur als jene, die Meyrink in seinem Roman darstellte – oder auch die Version aus Paul Wegeners 1920 entstandenem Stummfilm, der von dem Roman inspiriert wurde. Er ist ein erfolgreiches Produkt, ohne das man nicht auskommt; ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil eines besseren Lebens. Sein Erfolg stellt eine viel größere Bedrohung dar als rein physische Gewalt: nämlich die Vorstellung, der Mensch könnte im Vergleich mit diesem Objekt unterliegen; als wäre er die weniger effiziente, teurere und fehleranfälligere Version des Golems, ein mittlerweile veralteter Prototyp, Vorläufermodell für etwas wesentlich Besseres. In den Worten eines damals in London lebenden Philosophen des 19. Jahrhundert namens Karl Marx: „Die Gefahr liegt nicht darin, dass die Maschine dem Menschen, sondern darin, dass der Mensch der Maschine immer ähnlicher wird.“ Was geschieht, wenn Menschheit und Maschine untrennbar miteinander verschmelzen?
David Tushingham
Übersetzt von Vera Neuroth