Fünfundzwanzig Jahre jung war Karl Kraus, als er nach nicht beendetem Jura-, Germanistik- und Philosophie-Studium, ersten Kritiken und Artikeln und dem erfolglosen Versuch Schauspieler zu werden in Wien 1899 die Zeitschrift Die Fackel gründete. Kraus war ab dem Jahre 1912 der einzige Autor und darüber hinaus Chefredakteur, Herausgeber und Verleger in Personalunion und brachte bis zu seinem Tod im Jahre 1936 922 Nummern der Zeitung mit zusammengenommen 20.000 Seiten heraus.
Die in „zwangloser Folge“ erscheinende Fackel war Kraus’ Sprachrohr und Forum, in dem er, vorsätzlich keiner Partei und keiner Ideologie angehörend, seiner Zeit die Leviten las. Seine „Erledigungen“ – „Es ist mein Verhängnis, daß mir die Leute, die ich umbringen will, unter der Hand sterben!“–, rhetorische Vernichtungsversuche und gnadenlos geführte Auseinandersetzungen mit bedeutenden und weniger bedeutenden Persönlichkeiten, die nicht selten mit Gerichtsverfahren und Verleumdungsklagen endeten, waren legendär.
Er geißelte die von ihm „Journaille“ getaufte Presse – „Vervielfältigung ist insofern ein Fortschritt, als sie die Verbreitung des Einfältigen ermöglicht“ –, er entlarvte Doppelmoral und restriktive Sittenvorstellungen – „Der Skandal fängt an, wenn die Polizei ihm ein Ende macht“ – und war doch gleichzeitig konservativer Verächter des Liberalismus und konvertierter Katholik. „Um zu glauben, dass Einer das alles gemacht hat, braucht man doch sicher mehr Gedanken, als um zu wissen, dass er es nicht gemacht hat, ihr Idioten des freien Geistes.“ Darüber hinaus war er unerbittlich in seinem Verlangen nach Sprachgenauigkeit. „Die Phrase und die Sache sind eins!“
Große Teile seiner nicht für die Bühne, sondern als Lesestück konzipierten Tragödie Die letzten Tage der Menschheit erschienen zuerst in der Fackel; die Buchausgabe nach Aufhebung der Zensur 1922. Über 200 Szenen vereinigt diese Montage. Ein Drittel davon sind Zitate aus Zeitungen, Heeresberichten, Gerichtsurteilen und Ähnlichem. Das dramatische Personal ist riesig, die Schauplätze dauernd wechselnd, der Umfang etwa 800 Seiten, die Anforderungen an die Bühnentechnik nicht zu bewältigen und die Spieldauer von Kraus selbst mit etwa sechs Tagen angenommen.
Nicht nur aus diesem Grund verweigerte sich Kraus den Anfragen von berühmten Regisseuren wie Max Reinhardt und Erwin Piscator. Kraus, der in seinem Leben 700 Lesungen seiner Werke abgehalten hat, deren Erlöse er allesamt guten Zwecken spendete, stellte aber dennoch eine Bühnenfassung zusammen, die als Buch ebenfalls vorliegt.
Nachdem er seit Ausbruch des Krieges geschwiegen hatte, hielt Karl Kraus am 19. November 1914 einen Vortrag mit dem Titel „In dieser großen Zeit“, den er in der seit Kriegsausbruch ersten Ausgabe der Fackel im Dezember 1914 abdruckte und den er mit folgenden Worten begann: „In dieser großen Zeit, die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr dazu noch Zeit bleibt; und die wir, weil im Bereich organischen Wachstums derlei Verwandlung nicht möglich ist, lieber als eine dicke Zeit und wahrlich auch schwere Zeit ansprechen wollen; in dieser Zeit, in der eben das geschieht, was man sich nicht vorstellen konnte, und in der geschehen muß, was man sich nicht mehr vorstellen kann, und könnte man es, es geschähe nicht –; in dieser ernsten Zeit, die sich zu Tode gelacht hat vor der Möglichkeit, daß sie ernst werden könnte; von ihrer Tragik überrascht, nach Zerstreuung langt, und sich selbst auf frischer Tat ertappend, nach Worten sucht; in dieser lauten Zeit, die da dröhnt von der schauerlichen Symphonie der Taten, die Berichte hervorbringen, und der Berichte, welche Taten verschulden: in dieser da mögen Sie von mir kein eigenes Wort erwarten. Keines außer diesem, das eben noch Schweigen vor Mißdeutung bewahrt. Zu tief sitzt mir die Ehrfurcht vor der Unabänderlichkeit, Subordination der Sprache vor dem Unglück. In den Reichen der Phantasiearmut, wo der Mensch an seelischer Hungersnot stirbt, ohne den seelischen Hunger zu spüren, wo Federn in Blut tauchen und Schwerter in Tinte, muß das, was nicht gedacht wird, getan werden, aber ist das, was nur gedacht wird, unaussprechlich. Erwarten Sie von mir kein eigenes Wort. […] Die jetzt nichts zu sagen haben, weil die Tat das Wort hat, sprechen weiter. Wer etwas zu sagen hat, trete vor und schweige!“
Geschwiegen hat Kraus nicht. Er ist Chronist und Ankläger seiner Zeit geworden – oder wie es seine Figur „Der Nörgler“ in den Letzten Tagen präzisiert: „Ich habe das Wesen gerettet und mein Ohr hat den Schall der Taten, mein Auge die Gebärde der Reden entdeckt und meine Stimme hat, wo sie nur wiederholte, so zitiert, daß der Grundton festgehalten blieb für alle Zeiten.“
Sven-Eric Bechtolf